Rezension in der taz


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Abgeschickt von Martine am 08 Januar, 2005 um 16:52:26:

Antwort auf: Quicksilver von Martine am 03 Januar, 2005 um 12:25:29:

Flüssig in die Vergangenheit

Wenn man nicht mehr so klarsichtig und kreativ in die Zukunft blicken kann und auch der Cyberpunk nicht mehr hilft, dann muss es eben die Gesellschafts- und Technikgeschichte des Barock sein: Neal Stephensons tausend Seiten starker historischer Roman "Quicksilver", der erste Teil seines Barock-Zyklus

VON MAIK SÖHLER

"Quicksilver" - Quecksilber, schon der Titel mit seinen schillernden Assoziationen verweist auf Fließendes, meidet die Festlegung. Er ist ideal für einen mehr als tausend Seiten starken historischen Roman, der mit zwei Folgeromanen, "The Confusion" und "The System of the World", die in den USA und Großbritannien bereits erschienen sind, Neal Stephensons so genannten Barock-Zyklus bildet, eine Trilogie, die aber wiederum nur die Vorgeschichte eines anderen Romans erzählt, der "Cryptonomicon" heißt, bisher keine Folgeromane hat und in der Gegenwart sowie in der jüngeren Vergangenheit spielt. All diesen Werken gemein sind vier Namen - Stephenson sowie Root, Shaftoe und Waterhouse.

Mit Büchern wie "Snow Crash" und "Diamond Age" wurde Neal Stephenson in den Achtzigerjahren zu einem der bekanntesten Science-Fiction-Autoren und gleichzeitig zu einem der wichtigsten Vertreter des Cyberpunk. Bereits in "Diamond Age" verknüpfte er weit Vergangenes mit Technikentwürfen der Zukunft. Seit Jahren arbeitet Stephenson mit anderen Autoren am so genannten Metaweb, das ein Teil der Internet-Enzyklopädie Wikipedia ist und dem freien Wissensaustausch dienen soll.

Die Namen Waterhouse, Shaftoe und Root wiederum finden sich alle drei im "Cryptonomicon", wo im Zweiten Weltkrieg ein Corporal Bobby Shaftoe und ein Lawrence Pritchard Waterhouse agieren, Zeitgenossen von Enoch Root, der Jahrzehnte später aber auch Randy Waterhouse sowie Doug Shaftoe und seine Tochter Amy kennen lernen soll.

Auch in "Quicksilver" bildet Enoch Root eine Art Brücke, eine zwischen dem durch den Dreißigjährigen Krieg fast vollständig zerrütteten Europa und einem Amerika, das gerade erst in nennenswertem Ausmaß besiedelt wird. Anders gesagt: Wer in der zweiten Hälfte des 17. und im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts im Europa der Pest, des Absolutismus und der Restauration nicht mehr bleiben mag, wandert an die Ostküste der späteren USA aus. Einer dieser Flüchtlinge heißt Daniel Waterhouse. In London war er Puritaner, Mitglied der Royal Society und Vertrauter Isaac Newtons. Der physische und intellektuelle Terror der Gegenreformation sowie die Ränke bei Hof haben den Wissenschaftler nach Boston getrieben. Dorthin reist nun auch Root, um ihn zurückzuholen, und es dauert nicht lange, bis er sich sowohl über das junge Amerika, wo die Gerichtsverfahren noch in Schankhäusern stattfinden, als auch über Daniels Erklärungen wundert: "Der Richter da ist auch nicht betrunkener als irgendein Magistrat von Old Bailey."

Für Waterhouse wird Roots Besuch zum Anlass für eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise, die ihn neben Newton auch mit Philosophen und Naturwissenschaftlern wie Gottfried Leibniz, der in jener Zeit die erste Rechenmaschine entwickelt, und dem Erfinder des Quecksilber-Barometers Robert Hooke zusammenbringt. In diese europäische Welt der Naturphilosophie gehört Daniel, und genau das ist auch sein größtes Problem: "Gott hatte ihm das Verlangen eingegeben, ein großer Naturphilosoph zu werden - und ihn dann zusammen mit Newton, Hooke und Leibniz in die Welt gesetzt."

Mit solcher Konkurrenz muss sich Jack Shaftoe nicht herumärgern. Seine Vita ist die eines Gassenjungen, der zum Söldner und Landstreicher wird. Sein Weg führt ihn zur Schlacht um Wien, wo er die adelige Sklavin Eliza aus der Gewalt der Türken befreit. Er flieht mit ihr zuerst nach Leipzig und in den Harz. Doch die Welt der Deutschen, die noch lange kein Deutschland kennen, sagt beiden nicht zu - es verschlägt sie nach Amsterdam, dem damaligen Zentrum des Welthandels. Schon lange ist Jack an der Syphilis erkrankt und schluckt, wie viele Adlige auch, Quecksilber, um die Leiden der Krankheit zu mildern. Im Quecksilber liegt seine einzige Hoffnung, länger zu leben.

Überhaupt ist "Quicksilver" ein Buch der Hoffnungen. Nach all den Kriegen und Seuchen kann es eigentlich nur aufwärts gehen. Doch kommen Rationalismus und Fortschritt gegen religiösen Fanatismus, absolutistische Macht und stehende Heere nicht immer an. Hier wird anschaulich, was wirklich den Begriff "Altes Europa" verdient.

Einiges in "Quicksilver" wirkt stark idealisiert, das gilt vor allem für die Welt der Wissenschaft. Man merkt schnell, dass die Form der Science-Fiction zum Wunschdenken besser passt als die des historischen Romans. Und ob Stephensons Konzept "Barock rockt" für eine Trilogie mit tausenden von Seiten trägt, ist auch noch nicht ausgemacht. Trotzdem ist ihm ein schönes Buch gelungen, weil die Mischung aus großen historischen Linien und kleinen Details stimmt. Die Interessen und Strategien von Königshäusern, Regierungen und Klerikern werden literarisch ebenso verarbeitet wie Sexpraktiken, Trinkgewohnheiten und Modetrends jener Zeit. Dabei hat das Ganze auch Tempo und ist durchgängig mit subtilem Humor unterlegt. So kommt auch das "Cryptonomicon" zur Sprache: "Ein sehr komisches altes Buch, furchtbar dick und voller Unsinn", gemeint ist ein alchimistisches Kompendium des späten Mittelalters. Oder doch nicht?

Seit Jahren wird die Krise des Science-Fiction beschworen: Dem Genre würden langsam die Ideen ausgehen, und je waghalsiger und entfernter die erschaffenen Zukunftswelten seien, desto weniger faszinierten sie. Auf diese Krise kann ein Buch wie "Quicksilver" sicher keine Antwort geben. Es ist, ähnlich wie William Gibsons "Mustererkennung", höchstens als Versuch zu begreifen, eine Antwort zu verweigern. Wo es nach vorne nicht weitergeht, wenden sich Gibson der Werbe- und Netzwelt der Gegenwart und Stephenson der Gesellschafts- und Technikgeschichte des Barock zu. Damit verhalten sich die in die Jahre gekommenen Cyberpunks wie Quecksilber - es will nirgendwo haften, sich nie richtig festlegen.


Neal Stephenson: "Quicksilver". Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl und Juliane Gräbener-Müller. Manhattan Verlag, München 2004. 1.152 Seiten, 29 Euro
taz Nr. 7559 vom 8.1.2005, Seite 18, 199 Zeilen



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